Gendern 2.0: Geschlechtergerecht und trotzdem einfach
Wer will, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden, der muss sie gleich benennen. Nele Pollatschek im Tagesspiegel
Im Deutschen haben wir die Situation, dass die kurze Stammform (Leser) gleichzeitig zwei Bedeutungen hat. Zum einen meint es, wie neue Sprachforschungen belegen, schon jahrtausende lang alle lesenden Menschen (geschlechtsübergreifende Bedeutung).
Seit der Entstehung der weiblichen Endung „Leserinnen“ für weibliche Leser wurden die „Leser“ aber automatisch zu den anderen, also zu rein männlichen Lesern.
Diese Doppelbedeutung löst sich gerade auf. Die uralte geschlechtsübergreifende Bedeutung ist am aussterben, denn sowohl bei „Leser und Leserinnen“ als auch bei „Leser*innen“ sind mit „Leser“ nur noch die Männer gemeint.
Wir haben nun in unserer Sprache die paradoxe Situation, dass die Frauen von den Männern durch ein Anhängsel abgeleitet werden. Wie im patriarchalen System, das eigentlich überwunden werden soll, ist der Mann der Stammhalter, und die Frau ihm untergeordnet. (Leser/Leserin). Diese assymmetrische Sexusmarkierung wurde in den 1980er Jahren von den Frauen selbst so auf den Weg gebracht, als sie dem generischen „Leser“ die rein männliche Interpretation unterstellten, und weil sich damals niemand mit einer sinnvolleren Lösung durchsetzen konnte. Die Chance hätte es gegeben, wie Luise F. Pusch hier bei Min. erzählt.
Spätestens seit aber das BVG 2017 neben den Männern und Frauen noch eine dritte Gruppe anerkannt und vor Diskriminierung geschützt hat, ist die oben beschriebene Sprache nicht nur ungerecht, sondern zusätzlich diskriminierend. Eine diverse Gesellschaft, die Wert auf Gleichberechtigung legt, kann mit diesem Ansatz einfach nicht abgebildet werden; weil all diese Sprachwerkzeuge und die Grundstruktur aus einem binären Menschenbild stammt. Die bisherigen Lösungsversuche führten eher zu ideologisch aufgeheizten Debatten, die unsere Gesellschaft spalten, als zu einer Lösung, die durchgängig in allen Textsorten und Sprechsituationen verwendet werden kann. Eine solche wäre aber durchaus möglich, wie wir gleich sehen werden.
Definitionen
Geschlechtergerechte Sprache bedeutet, nicht ein Geschlecht zu bevorzugen, indem die anderen verschwiegen oder nur mit Mehraufwand bezeichnet werden können. Ein Blick in mit dem Deutschen verwandte Sprachen zeigt uns: Es gibt sie entweder in der Form, kein Geschlecht auszudrücken (engl. doctor), oder in der Form, alle Geschlechter gleichermaßen verbindlich auszudrücken (isländ. -son bzw. -dóttir in Familiennamen). Solche Systeme, die entweder ausnahmslos alle Geschlechter meinen oder jedes Geschlecht verschieden und eindeutig benennen, bezeichnen wir als »symmetrisch«. Das geschlechterübergreifende (»generische«) Maskulinum im Deutschen erfüllt diese Kriterien bisher nicht, da die Stammform und die männliche Form identisch sind.
Es ist weitgehender Konsens, dass eine geschlechtergerechte Sprache erstrebenswert ist, weil sie eine inklusive Gesellschaft symbolisiert. Der symbolische Wert der Sprache sollte nicht unterschätzt werden, sie ist mehr als nur ein Werkzeug. Weiterhin besteht die Hoffnung, dass eine gerechte Sprache dazu beiträgt, Ungerechtigkeiten zu reduzieren.
Das Wort gendern verwenden wir kurz für »geschlechtergerecht formulieren«.
Das biologische und parallel dazu auch das soziale Geschlecht ( »Gender« ) bezeichnen wir der Einfachheit halber als Sexus.
Das grammatische Geschlecht bezeichnen wir als Genus ( Plural Genera ). Das Genus teilt Substantive in Kategorien ein, die die Form begleitender Ausdrücke festlegen. Beispielsweise wird ein artikelloses Adjektiv, das auf –er, –e oder –es endet, je nach dem Genus des folgenden Substantivs zu silberner Löffel, silberne Gabel, silbernes Messer. [TODO
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Die Aufteilung der Substantive auf diese Kategorien = Genera kann völlig willkürlich sein (der Löffel, die Gabel, das Messer), kann aber auch Kriterien der Bedeutung oder Form folgen. So finden sich im Lateinischen Bezeichnungen für Männer gewöhnlich im Maskulinum, für Frauen im Femininum – und daher kommt auch die metaphorische Bezeichnung als »männlich«, »weiblich« oder »neutral« (ne-utrum ›keines von beiden‹), die man nicht zu wörtlich verstehen sollte.
Mit Movierung meinen wir die Sexusmarkierung von Bezeichnungen mittels Suffix (ableitende Endung). Etabliert hat sie sich vor allem für Frauen mit der an die Stammform angehängten Silbe -in. Sehr viel seltener werden männliche Exemplare solcherart moviert (Enterich, Mäuserich, Wüterich).
Ist-Zustand
Es gab und gibt eine Reihe von Vorschlägen, die teils vermeintliche, teils faktische Dominanz der Männer in der deutschen Sprache auszugleichen. Kurz zusammengefasst und nüchtern betrachtet stellt sich die Situation derzeit dar wie folgt:
- Das Gendersternchen (Leser*in) ist mehr eine »Anerkennungsgeste« als ein echtes sprachliches Mittel. Dies ändert sich auch nicht, wenn es durch ein anderes Zeichen (Doppelpunkt, Binnen-I, Mediopunkt) ersetzt wird. Die Typographie kann ein grammatisches Problem nicht lösen.
- Die Beidnennung (Leserinnen und Leser) ist zwangsläufig heteronormativ und damit erkennbar diskriminierend gegenüber non-binären Personen. Sie ist zusätzlich sexistisch, weil sie den Sexus einer jeden Person – ob diese will oder nicht! – offenbart. Weiterhin verkompliziert die Beidnennung den Satzbau in vielen Fällen erheblich.
- Psycholinguistische Test zum »Beweis« der männlichen Dominanz beim generischen Maskulinum weisen Konzeptionsfehler auf, so dass eine »schädliche« Wirkung des geschlechterübergreifenden Maskulinums bisher wissenschaftlich nicht erwiesen ist.*
- Ist eine geschlechterübergreifende Form im Deutschen aus den oben genannten Gründen unverzichtbar, vor allem in Bezug auf die Wortbildung. Selbst einfache Sätze wie »Wir brauchen einen neuen Bürgermeister.« verlangen eine einfache Form, da eine solche weder durch typographische Interventionen noch durch Aufzählung ersetzbar ist.
- Ist die Doppelfunktion des maskulinen Genus zur Bezeichnung von sowohl generischen als auch männlichen Subjekten ein Anachronismus, der besser nicht mehr fortgeschrieben werden sollte.
*Hinweis: Als Hintergrund zum Gendern empfehlen wir den Artikel (ab S. 44) von Gisela Zifonun vom Institut für deutsche Sprache Mannheim, wo sich auch Hinweise zu den beanstandeten Studien finden.
Gendern 2.0
Als wichtige Kriterien für eine geschlechtergerechte Sprache, sehen wir:
- Minimalinvasiv – wir erreichen Geschlechtergerechtigkeit vor allem, indem wir die Sprache um das erweitern, was bisher gefehlt hat.
- Sexussymmetrisch – alle Geschlechter werden nach dem gleichen Prinzip ausgedrückt. Es gibt sowohl eine geschlechterübergreifende Stammform, als auch für jeden denkbaren Sexus eine eigene Movierung. Keines der Geschlechter wird mehr irgendwie »mitgemeint«.
Das Genussystem
Zur Erinnerung: Das grammatische Geschlecht bezeichnen wir als Genus. Das Genus teilt Substantive in drei Kategorien ein, für die jeweils bestimmte Regeln gelten. Die Aufteilung der Substantive auf die Genera kann willkürlich sein (der Löffel, die Gabel, das Messer), aber auch bedeutsam.
Die Genera bleiben in ihrer Funktion unangetastet, daraus folgend wird es auch weiterhin kein spezielles »sexusneutrales« Pronomen (wie es manchmal vorgeschlagen wird) geben. Sonst wäre das ganze Konzept inhärent widersprüchlich. Die Genera sind eine lexikalische, keine semantisch begründete Einheit. In erster Linie werden also weiterhin bei sexusneutralen Ausdrücken er, sie, es in Abhängigkeit vom Genus des vorausgehenden Substantivs gesetzt: der Mensch, er lacht – die Wache, sie langweilt sich – das Mitglied, es hat ein Anliegen.
Was in jedem Fall geändert werden muss, ist die auf die klassische Sprachwissenschaft zurückgehende Benennung der Genera nach den (damals zwei) Sexus. Statt von Maskulinum, Femininum und Neutrum sprechen wir vom »ersten, zweiten und dritten Genus« , wobei sich die Reihenfolge durch deren Häufigkeit ergibt, nicht durch irgendwelche diskriminierenden Kriterien.
Ausgangslage
Wir gehe für unser System von den folgenden Grundsätzen aus:
- Mit dem geschlechterübergreifenden ersten Genus (früher »generisches Maskulinum«) gibt es bereits eine hervorragende Form, Personen unbekannten Geschlechts zu bezeichnen.
- Das historisch gewachsene Sammelsurium weiterer sexusneutraler Ausdrücke (Person, Kind, Wache, Mitglied, Mensch) ist zwar sprachtechnisch nicht ideal, aber zu akzeptieren. Deutsch ist keine Plansprache. Zudem schwächen diese Ausdrücke die Fehlidentifikation zwischen Genus und Sexus, was unserem Anliegen entgegen kommt.
- Neue Elemente sollen die alten ergänzen, aber nicht ersetzen. Dadurch sind die Verständlichkeit und die Verständigung gesichert.
Einige Sachzwänge ergeben sich aufgrund dieser Prinzipien von selbst. Für weitere Geschlechter, neben männlich und weiblich, bleibt für diejenigen Fälle im pronominalen Bereich, wo der Sexus auf das Genus abgebildet wird (»Unterhaltung für sie und ihn«), nur der dritte Genus (früher Neutrum) übrig. »Es« genannt zu werden, mag für viele zunächst herabwürdigend wirken, doch ist dies offensichtlich eine Frage der Gewöhnung, denn bei Kind, Mitglied usw. empfindet niemand das dritte Genus als negativ, zudem gibt es tatsächlich auch Nichtbinäre, die »es« zu ihrem Vorzugspronomen erklärt haben.
Symmetrische Movierung
Hauptelement unseres Vorschlages sind neue Suffixe, die dort angefügt werden können, wo dies bisher schon mit dem weiblichem –in üblich ist:
–ich, Plural –iche (nach Konsonanten) bzw. –rich, Plural –riche (nach Vokalen), erstes Genus (früher Maskulinum), zum Ausdruck ausschließlich von Männern. Das Element -(r)ich ist aus Enterich u.a. entlehnt und damit bereits bekannt.
–ix, Plural –ixe, dritter Genus (früher neutrum), zum Ausdruck nicht-binärer Personen. Dieses Suffix existiert bereits in dieser Funktion bzw. allgemeiner als sexusneutrales Suffix. Weitere Geschlechter können nach diesem Schema etabliert werden.
Dadurch ergäbe sich für die meisten Personenbezeichnungen im Deutschen:
Ausdruck | Form |
---|---|
geschlechts- | der Leser |
weiblich | die Leserin |
männlich | der Leserich |
divers | nur als Beispiel: |
*) Dieses System ist offen und erweiterbar. Die Endungen für männlich und divers sind Vorschläge, die bisher an uns heran getragen wurden. Wir wollen es der Sprachgemeinschaft überlassen, die ein oder andere zu etablieren. |
Auf diese Art werden die meisten offenen Punkte im Gendersprachenstreit auf eine einfache Art gelöst. Die Sprache bleibt so, wie wir sie gewohnt sind, und bleibt gleichzeitig kompatibel zu allen alten Werken. Kein Buch müsste je umgeschrieben werden, weil es uns selbst oder unseren Kindern ungerecht scheinen würde.
Aber: die so entstandene symmetrische Grundstruktur ermöglichte es gleichzeitig problemlos, dass Menschen der dritten Gruppe eine eigene Endung entwickeln können.
Ungelöste und besondere Fälle
Ein Problem, das die durch Gendern 2.0 eingeführten Suffixe nicht lösen sind alte Personenbezeichnungen, die eine männliche und eine weibliche, aber keine generische und schon gar keine nicht-binäre Form haben. Es handelt sich hierbei um Verwandtschaftsbezeichnungen wie Vater/Mutter, Herrschaftstitel wie
König/Königin fällt weg, Königich wäre der männliche König, Königix der nonbinäre.
aber auch Mönch/Nonne und Mann/Frau. Dabei müssen nicht all diese Probleme gelöst werden: Es ist unwahrscheinlich, dass in konservativen, weitgehend obsoleten Kreisen wie Adel und Priesterschaft ein großer Bedarf für generische oder nicht-binärgeschlechtliche Ausdrücke besteht. Somit bleibt nur noch die Frage der Verwandtschaftsbezeichnungen als ungelöstes Problem. Für einige gibt es bereits jetzt neutrale Ausdrücke (das Elter, das Geschwister; vielleicht findet sich in Dialekten oder sprachgeschichtlich noch die eine oder andere Form, die geschlechterübergreifend dienen könnte) sowie Umschreibungen (Kind statt Junge/Mädchen). Für die noch fehlenden sind verschiedentlich Wortkreuzungen vorgeschlagen worden, die man übernehmen könnte, z.B. Niffe für Neffe/Nichte (Niffe – Nifferich/Neffe – Niffin/Nichte – Niffix).
In einem weiteren Fall gibt es allerdings keine einfache Lösung (im Übrigen auch nicht beim Gendern 1.0): Bei substantivierten Adjektiven (der/die Deutsche, der/die Geflüchtete) ist das Genus fest dem Sexus zugeordnet: die Deutsche ist zwingend eine Frau, der Geflüchtete meint entweder einen Mann (wenn man von einer konkreten Person spricht) oder in der zu vermeidenden Weise geschlechterübergreifend jede Person (wenn man allgemein formuliert). Der Plural die Deutschen/Geflüchteten ist indifferent, für nicht-binäre Personen gibt es gar keinen Ausdruck (das Deutsche meint etwas anderes). Hier sehen wir keine andere Möglichkeit, als das unklare erste Geschlecht (ehemals Maskulinum) im Singular zu vermeiden, entweder durch Gebrauch des Plurals oder durch andere Umschreibungen (z.B. ein Deutscher [Ein Mann? Oder ist nur das Geschlecht unklar?] kam ums Leben → ein deutscher Staatsbürger kam ums Leben).
Zusammenfassung
Das hier skizzierte System ermöglicht durch geschickte Erweiterungen statt radikaler Änderungen, die Schaffung eindeutig geschlechterübergreifender Ausdrücke und positive Ausdrücke für nicht-binärgeschlechtliche Personen.
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